Ich bin immer wieder gebeten worden, einmal meinen eigenen Weg in die Sucht und aus der Sucht niederzuschreiben. Persönlich habe ich davon nie viel gehalten, da gibt es wenig Bedeutsames und Spektakuläres. Außerdem, jede einzelne Suchtkarriere hat ihre eigenen Besonderheiten, jeder Mensch ist eine eigene Persönlichkeit.
Es ist also nicht zwingend, dass das Eine oder Andere genau so ablaufen muss, wie es in meinem Fall gelaufen ist. Trotzdem, ich schätze, ich komme nicht umhin, das Ganze irgendwann doch einmal aufzuschreiben. Also kann ich es auch hier und jetzt tun.
Geboren wurde ich 1959 in der DDR und heute wie damals lebe ich auf einem Dorf in Thüringen. Immer noch das gleiche Dorf, immer noch das gleiche Haus. Die Bezeichnungen Thüringen täuscht, sie erinnert immer so an Thüringer Wald und Gebirge. In Wirklichkeit ist meine nähere Heimat eine landwirtschaftlich sehr intensiv genutzte Ecke, ein Hügelland mit vielen Feldern und wenig Bäumen, durchflossen von der Ilm, einem kleinen Flüsschen.
Und spätestens hier wird vielen klar, dass es dabei um die Gegend von Weimar geht. Genau dort lebe ich, in einem alten Bauernhaus, Erbteil meiner Großeltern. Und dort lebten damals auch meine Eltern und mein Bruder, zusammen mit den alten Herrschaften. Mutter und Bruder sind noch da, der Rest der Familie ist inzwischen verstorben.
Mein Vater war selbst alkoholabhängig, nur sagte man damals nicht so. Er war eben einfach ein Säufer. Und deshalb wurde die Ehe auch 1968 geschieden. Viel habe ich von ihm nicht mitbekommen als Kind, wenn er nüchtern war, dann war er einfach ein lieber Vater. Ansonsten war er auf Arbeit, saß in der Kneipe oder schlief. Ich denke ganz einfach, meine Mutter und die Großeltern haben da vieles versucht von mir und meinem jüngeren Bruder fernzuhalten.
Der Kontakt zum Vater war später recht lose. Er zog wieder ins Nachbardorf zu seinen Eltern, heiratete noch einmal, wurde noch einmal geschieden und starb dann an seiner Trinkerei. Leberzirrhose, es war ein ziemlich elendes Sterben. Damals … ich war eigentlich schon selber abhängig, nur hätte ich das zu dem Zeitpunkt nie zugegeben. Ich und der Alte – kein Vergleich.
Schon rein äußerlich und außerdem war ich ja viel schlauer als der. Heute bin ich wirklich klüger. Ich weiß, dass ich es fast noch 10 Jahre schneller geschafft hätte, viel hat nicht gefehlt.
Und genau das ist die große Frage: Was bringt einen, der das schlechte Beispiel praktisch vor Augen hat, der um nichts in der Welt genau so enden möchte, was bringt den dazu, trotzdem das Gleiche zu tun?
Mich hat ja als Kind keiner dazu verführt, Alkohol zu trinken, im Gegenteil. „Das ist nur etwas für Erwachsene“ bekam ich zu hören. Aber was kam bei mir an von diesem Satz, schließlich trank ja auch mein Opa zum Essen grundsätzlich seine Flasche Bier? Bei mir als Kind kam dabei heraus, dass erwachsene Männer Bier trinken. Das war für mich fast ein Naturgesetz, alle Männer im Dorf tranken Bier.
Und sicher war das auch einer der Gründe, warum ich später auch auf Bier umgestiegen bin. Schließlich orientieren sich ja Kinder an Erwachsenen, und wenn es für Erwachsene dazu gehört, in die Gaststätte zu gehen und Bier zu trinken …
Langsam wurde ich größer. Irgendwann kam das erste erlaubte Glas Wein (und irgendwann auch bei einem Freund der erste unerlaubte Versuch mit selbstgepanschtem Wein), ansonsten war alles normal. Überhaupt hatte ich eigentlich eine völlig normale Kindheit. Sicher, wir waren nicht übermäßig reich, ich hatte kein Moped und unser Urlaub fand nicht im Ausland statt, sondern im Thüringer Wald, aber ich war zufrieden.
Meine Mutter war es mit mir auch. Ich beendete die Schule mit der 10. Klasse, erlernte den Beruf des Wirtschaftskaufmannes, machte an der Abendschule das Abitur und begann ein Fernstudium. Aber irgendwo in dieser Zeit begann ich zu trinken. Ganz unmerklich geschah das, am Anfang trank ich sicher nicht mehr und nicht weniger, wie jeder andere in meinem Alter.
Ich weiß bis heute nicht, was mich wirklich zum Alkoholiker gemacht hat, aber mit großer Wahrscheinlichkeit spielt da die genetische Veranlagung von meinem Vater her eine Rolle. Sicher hat auch das Vorbild der Erwachsenen, die ja alle tranken (ohne indes alle abhängig zu sein), eine rechtzeitige kritische Auseinandersetzung mit dem Thema verhindert.
Auf alle Fälle war in meinem Fall auch ein wenig Flucht dabei. Schließlich hatte ich zu Hause immer noch die Großeltern und meine Mutter, da will man auch mal raus und ernst genommen werden. Das ist ja das Unheimliche am Alkohol, die scheinbare Geborgenheit in der Kumpanei mit den Saufbrüdern und dieses total verschobene Wahrnehmungsvermögen. Nach dem dritten Schnaps stimmt die Welt wieder …
Auf alle Fälle begann ich mit 18 oder 19 Jahren, hin und wieder in die Dorfgaststätten zu gehen. Anfangs hin und wieder, dann häufiger. Es dauerte eigentlich nur zwei, höchstens 3 Jahre, dann war ich dort täglicher Stammgast. Ich habe mich dabei eigentlich nie total betrunken. Es ging immer genau solange, bis ich zwar hinreichend voll aber noch in der Lage war, mich relativ unauffällig zu benehmen und anständig nach Hause zu gehen.
Ich kenne auch, von ganz großen Ausnahmen abgesehen, nicht den sogenannten Filmriss, jenen Kontrollverlust, bei dem man am anderen Tag nicht mehr weiß, was man getan hat. Auch bin ich stets früh pünktlich auf Arbeit gekommen. Na ja, als junger Mensch verkraftet man schon Einiges …
Auf alle Fälle aber stieg die Toleranzschwelle.
Ich habe Mengen getrunken, für die ich allgemein bewundert wurde. So von 16.00 Uhr bis 22.00 Uhr 18 doppelte Korn und 18 Bier, das war normal. Und damit das Ganze nicht so auffiel, habe ich teils bewusst teils unbewusst regelrechte Strategien entwickelt. Da war jeden Tag eine andere Gaststätte dran und eine andere Runde, mal ein Skatabend, mal etwas anderes.
Mitunter habe ich sogar im Laufe des Abends die Gaststätten gewechselt. Mit etwa 22 oder 23 Jahren begann die Zeit, wo ich dann auch Schnapsflaschen zu Hause und auf Arbeit hatte. Der Schluck zwischendurch sozusagen. Trotzdem war ich weit davon entfernt, mich abhängig zu fühlen. Ich trank, weil es mir Spaß machte.
Heute weiß ich, dass das nicht stimmt, aber als Abhängiger empfindet man das nicht so. Denn abhängig war ich inzwischen, ich lebte eigentlich nur auf den täglichen Feierabend hin, wegen der Möglichkeit zu trinken. Dabei war das längst keine körperliche Abhängigkeit. Ich konnte noch wochenlange Pausen einlegen und habe das mitunter auch getan. Aber bereits nach kurzer Zeit war ich wieder voll im alten Schema.
Nun vermissen Sie wahrscheinlich eine wirklich stichhaltige Begründung, warum ich zu trinken begann. Ich habe sie früher auch vermisst, und ich habe jahrelang danach gesucht, das können Sie mir glauben. Aber es gibt wohl keine. Da war einfach nichts, kein Schicksalsschlag oder Schlüsselerlebnis, einfach nichts.
Ich rutschte schön langsam rein, das war alles. Und heute muss ich sagen, es ist mir eigentlich auch egal. Ich habe getrunken, aus welchen Gründen auch immer. Und weshalb und wieso … Es spielt keine Rolle mehr. Ich kann die Vergangenheit sowieso nicht ändern, ich kann nur versuchen, mit meiner Abhängigkeit ohne Alkohol zu leben. Das zählt, alles andere ist unwichtig.
Langsam kletterte ich auf der Treppe der Sucht weiter nach oben. Etwa 1984 bekam ich erstmals arbeitsmäßig Probleme, auch wegen der Trinkerei. Und ein Jahr später erfolgte dann der erste halbherzige Versuch einer ärztlichen Behandlung. Natürlich sah ich mich immer noch nicht als Alkoholiker. Ich trank zuviel, aber so richtig abhängig, nein.
Ich doch nicht, das konnte mir nie passieren. Und so war denn der Versuch aufzuhören nur eine Episode. Außerdem hat das Disulferan bei mir nicht richtig gewirkt. Normalerweise hätte das Medikament bei anschließendem Alkoholgenuss Übelkeit bis zum Erbrechen auslösen müssen, aber bei mir hat es irgendwie die Wirkung des Alkohols nur verstärkt.
Ich brauchte nicht mehr so viel zu trinken, bis der gewünschte Effekt eintraf. Und natürlich war die Behandlung nutzlos, ich wollte ja gar nicht völlig aufhören.
Trotzdem gelang es mir in gewissen Maße, die Geschichte vorübergehend unter Kontrolle zu bekommen. Das ging bis etwa 1988 ganz gut. Ich war völlig unauffällig, auch arbeitsmäßig. Wesentlich auffälliger war die Geschichte dagegen für meine Mutter. Die merkte ja, wie ich zunehmend mein Interesse für alles verlor und erst recht merkte sie, dass ich fast jeden Tag erst spät und fast immer halb betrunken nach Hause kam.
Natürlich versuchte, sie, mich vom Alkohol wegzubekommen, und dabei wurde das eigentliche Problem in Ansätzen sichtbar.
Sie müssen sich die Sache so vorstellen: Ich ging früh aus dem Haus mit dem festen Vorsatz, heute pünktlich nach Hause zu kommen. Und dann kam irgendwann der Feierabend. Es kam der Weg zum Bahnhof und dort hatte ich genau 25 Minuten Zeit. Eigentlich eine völlig blödsinnige Zeitspanne, keiner Diskussion wert. Aber jeden Tag, statt nun an meine guten Vorsätze zu denken, ging ich erst einmal in die Bahnhofsgaststätte.
2 Bier und 2 doppelte Korn, dann kam der Zug. Und immer öfter fuhr der Zug ohne mich und ich nahm den Nächsten. Aber egal, wann ich fuhr, grundsätzlich kam ich anschließend an keiner Kneipe vorbei. Ich hätte mich mit Überstunden rausreden können oder dem verpassten Zug, gar kein Thema, auf jedem Fall wäre ich ohne moralischen Gesichtsverlust zu Hause angekommen … Aber es ging nicht. Nur zwei Bier … und ich wusste eigentlich ganz genau, dass es bei diesen 2 Bier nicht bleiben würde.
Am Ende war es gegen 22 Uhr und ich war wieder wie jeden Tag hinreichend voll. Genau so regelmäßig lief nun zu Hause immer wieder einmal das übliche Ritual ab. Meine Mutter versuchte, herauszubekommen, warum ich schon wieder getrunken hatte.
Nun neige ich eigentlich nicht zu Wutausbrüchen und ich war auch nicht betrunken genug, um nicht die Richtigkeit ihrer Argumente zu begreifen. Warum … Ich wusste es ja selbst nicht. Ich erfand Ausreden, suchte nach Gründen, manchmal stritt ich auch und mitunter schwieg ich einfach, weil ich nichts zu sagen wusste.
In jedem Fall aber war mir klar, sie hatte Recht. Und jeden Tag kam dann der neue Vorsatz, am nächsten Tag nicht zu trinken und jedes Mal trank ich dann doch wieder. Ich begriff mich selber nicht mehr. 3 Jahre Abendschule und 5 Jahre Fernstudium hatte ich mit viel Disziplin und eisern durchgestanden, aber die Kraft, ein lumpiges Bier stehen zu lassen, die hatte ich nicht. So etwas zermürbt, das zehrt am Selbstbewusstsein und zwar gewaltig.
Ich begann damals, durch die Hölle zu gehen. Denn es war die Hölle, tatsächlich. Solange ich trank nicht, da war alles in Ordnung, aber anschließend kam die Stunde der Wahrheit. Und genau die zu begreifen war ich nicht in der Lage.
In den Folgejahren wurde es für mich zunehmend schwerer, einen Arbeitstag ohne Alkohol durchzustehen. Die körperliche Abhängigkeit begann. Nun hatte ich noch mal Glück, 1989 kam die Wende und danach der Zusammenbruch der volkseigenen Betriebe. Praktisch hat keiner mehr so richtig auf Arbeitsdisziplin geachtet, da war vieles möglich. Ende 1990 war dann Schluss, ich wurde arbeitslos, wie fast alle Leute im Betrieb.
Nun war ja zu diesem Zeitpunkt Arbeitslosigkeit fast der Normalfall und kein sozialer Abstieg an sich. Aus diesem Grunde sah ich auch keine Notwendigkeit, da groß nachzudenken. Sicher hatte es auch vorher schon ein paar Probleme gegeben im Betrieb und in der Familie sowieso, aber das verdrängt man als Alkoholiker.
Schuld sind immer die Anderen und die Umstände, nie man selber. Bemerkenswert aber ist eins: Durch die Arbeitslosigkeit fiel die letzte Hemmschwelle, die bisher den Alkoholkonsum noch gedrosselt hatte. Ich hatte ja nun Zeit und konnte saufen, wann ich wollte. Und einen Grund hatte ich auch, ich konnte mich ja selber bedauern, wegen der unverschuldeten Arbeitslosigkeit.
Hier liegt übrigens die Ursache dafür, dass ich immer sehr vorsichtig bin, wenn mir jemand erzählt, die Arbeitslosigkeit wäre Ursache seiner Sucht. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass sich diese Theorie in der Regel nicht halten lässt. Man muss da sehr genau hinschauen. Oft ist es vielmehr so, dass die Arbeitslosigkeit direkt oder indirekt schon eine Folge der Trinkerei ist.
Sie führt zu einem beschleunigten Verlauf der Sache, weil nun der Zwang wegfällt, auf Arbeit zu gehen und nüchtern zu bleiben, und weil dadurch die getrunkene Menge steigt, aber in aller Regel war die Abhängigkeit oder zumindest der Missbrauch schon vorher da. Es werden ja nicht alle Arbeitslosen zu Säufern, zum Glück, sondern es trifft genau die, die vorher schon den Alkohol als liebste und schönste Freizeitbeschäftigung sahen.
Längst waren die alten Hobbys verschwunden. Es gab in meinem Leben eigentlich nur noch zwei Inhalte: Alkohol und Geld für Alkohol. Die Revolution von 1989, die Wiedervereinigung, die Währungsreform, alles rauschte mehr oder weniger an mir vorbei. Die Welt um mich – ich sah sie nicht mehr. Und das Schlimmste war, ich habe das nicht einmal bemerkt.
Der Alkohol war Ersatz für alles andere geworden. Nur wurde die Geschichte langsam zum existenzbedrohenden Problem. Ich wurde in dem Jahr der Arbeitslosigkeit endgültig massiv körperlich abhängig. Genau so schlimm aber war, dass mein Körper den Belastungen nicht mehr gewachsen war. Die getrunkene Menge begann schon wieder zu sinken, ich konnte einfach nicht mehr.
Das führte dazu, dass ich ganz einfach gar nicht mehr in der Lage war, genug zu trinken, um den gewünschten Effekt zu erreichen.
1992 bekam ich wieder Arbeit. Aber es war schon zu spät, ich konnte nicht mehr. Im Herbst des Jahres kam der erste Zusammenbruch. Leberschäden, Wassersucht, total versaute Blutwerte – vier Wochen lag ich im Krankenhaus, ehe die Ärzte die Geschichte einigermaßen in den Griff bekamen.
Dort hatte ich erste Kontakte mit der Suchtberatung und nach meiner Entlassung auch mit der Selbsthilfegruppe. Nur war ich immer noch nicht bereit, mir meine Sucht wirklich einzugestehen. Alkoholprobleme ja, aber Sucht? Konnte doch nicht sein. Ich und süchtig, und das bei meiner Intelligenz, das erschien mir undenkbar.
Und soweit, wie die Säufer von der Straßenecke oder wie mein Vater, der sich 1983 zu Tode gesoffen hatte, war ich schon gar nicht. Ich hatte einfach Pech gehabt – und überhaupt, das musste doch beherrschbar sein. Dachte ich. Und so ging ich irgendwann nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ein Bier trinken. Das funktionierte auch. Einmal, zweimal und noch ein paar Mal. Und dann waren es zwei Bier und dann 3 und ein Jahr später lag ich wieder im Krankenhaus.
Dieses Mal sahen die Blutwerte noch schlimmer aus, außerdem kam noch ein offenes Magengeschwür dazu. Da ich ja nichts mehr gegessen sondern nur noch gesoffen hatte, hatte mir mein Magen das übel genommen.
Ich war verblüfft, ehrlich. Ich lag da und überlegte hin und her, was da eigentlich passiert war. Zeit dazu hatte ich ja genug, wer am Tropf hängt, muss notgedrungen liegen bleiben und hat ja nichts zu tun. Nur begriffen, begriffen habe ich das Ganze nicht. Es gab ja keine rationale Erklärung dafür, warum ich in den sichtbaren Abgrund gelaufen war. Genau das ist übrigens Sucht, die hat mit Logik und Verstand einfach nichts zu tun. Und irgendwie war ich der festen Ansicht, nun wirklich Schluss zu machen mit dem Alkohol.
Die Monate davor waren einfach zu schrecklich gewesen. Meine körperliche Abhängigkeit war ja so stark, dass ohne Alkohol gar nichts mehr ging. Also musste ich, einmal angefangen, weitertrinken. Aber mit Alkohol lief auch nichts mehr. Ich war dermaßen am Ende, dass ich regelrecht froh war, als ich endlich im Krankenhaus lag. Man hört ja immer wieder einmal von den massiven Problemen bei Drogenabhängigkeit. Ich sage Ihnen, schlimmer kann das eigentlich auch nicht sein …
Und nun kommt mit Sicherheit die Frage, warum mir das noch nicht gereicht hat. Die Antwort darauf ist ganz einfach. Die körperliche Abhängigkeit ist bei allen ihren Begleiterscheinungen immer noch das geringste Problem. Viel schlimmer ist die psychische Abhängigkeit. Denn ohne die Droge war ich gefühlsmäßig tot.
Es ging mir körperlich einigermaßen gut, zugegeben. Aber der Kopf war wie leer. Keine Ideen, keine Gefühle, keine Interessen, keinen Antrieb, irgend etwas zu tun. Alles weg … Und das Einzige, was ich mir vorstellen konnte, was Freude machen könnte, der Genuss einen Glases Bier, ja das durfte ich nicht. Ich konnte mich ja nicht mal seelisch dafür belohnen, dass ich nichts trank.
Und trotz Beratungsstelle und Selbsthilfegruppe kamen dann natürlich wieder die kleinen Teufel von Gedanken. Ein einziges Bier, was soll da groß passieren. Einmal und nie wieder, nur eins noch. Es hat dieses Mal nur ein halbes Jahr gedauert bis zur nächsten Entgiftung. Zum Glück lag ich schon im Krankenhaus, als die Leber endgültig ausstieg, sonst könnte ich heute diese Zeilen nicht mehr schreiben.
Es war Leberzirrhose, die irreversible Zerstörung des Gewebes. Dazu kamen natürlich auch die unvermeidliche Wassersucht und die anderen Probleme. Ich hatte ja nun schon Routine mit den Transfusionen und so. Es dauerte wieder über 4 Wochen und ich war bereit für einen neuen Anlauf.
Es ist wirklich kein Ruhmesblatt, aber ich habe es noch mal verhauen. Und eigentlich war ich nahe dran aufzugeben und mich tot zu saufen. Zwecklos, ich habe einfach nicht mehr daran geglaubt, dass ich es schaffen kann. Nicht, dass ich Lust zum Sterben gehabt hätte, ich sah einfach keine Alternative mehr.
Und in dieser Situation ging meine Umgebung zum Angriff über, massiv und mit allen Mitteln. Meine Mutter wollte mich rauswerfen, mein Arzt mich nicht mehr behandeln, die Krankenkasse das Krankengeld streichen. Alle forderten, dass ich zur Therapie gehe. Und am Ende habe ich den Antrag unterschrieben, ich wollte einfach meine Ruhe haben.
Damit Sie mich recht verstehen, ich hatte eigentlich nichts gegen die Therapie. Ich habe sie nur für zwecklos gehalten. Denn eigentlich, ich wusste doch alles, war zur Beratung gegangen und zur Selbsthilfegruppe – ich habe einfach nicht geglaubt, dass es noch was bringen könnte. Eventuell ein paar Monate ohne Alkohol, bestenfalls einen Aufschub des Endes, viel mehr hielt ich nicht für möglich.
Aber irgendwo ganz tief unten war auch noch ein wenig Hoffnung. Es war wirklich nur ein kleiner Rest, aber es war meine buchstäblich letzte Chance. Und ich war bereit, diese letzte Chance zu nutzen mit aller noch verblieben Kraft. Und sei es nur, um sagen zu können, dass ich nichts unversucht gelassen hätte.
Am 03.11.1994 ging zum letzten Mal zur Entgiftung. Die Zeitspanne der Sauferei davor war nur kurz, dieses Mal reichten 12 Tage, so dass ich planmäßig am 15.11. 94 zur Therapie nach Bad Blankenburg konnte. Es sollten 4 Monate werden und wurden 6. Ich habe es mir wirklich nicht leicht gemacht. Aber sehen Sie, ich selber hatte ja versagt mit all meinen Versuchen.
Und wenn nun überhaupt etwas wirken sollte, dann musste es etwas völlig Neues sein, etwas, was ich nicht versucht und woran ich gar nicht gedacht hatte. Und in diesem Sinne war ich bereit, mich auf alles einzulassen. Ich hätte den Klinikhof mit der Zahnbürste gescheuert, wenn mir jemand plausibel hätte erklären können, dass das hilft.
Und ganz langsam, wirklich ganz langsam, wuchs der Glaube daran, dass Abstinenz machbar ist. Und als dann der Frühling kam und ich zum ersten Mal seit Jahren wieder bewusst das Erwachen der Natur erlebte und zu erahnen begann, wie weit ich eigentlich schon weg war vom Leben, da wollte ich es dann wissen. Ich hatte wieder Mut zum Leben und irgendwann auch die Gewissheit, es schaffen es können. Aber weil da trotzdem noch Unsicherheit war und auch Angst, habe ich die Therapie um 2 Monate verlängert.
Der Rest ist schnell erzählt. Am 12. Mai 1995 wurde ich entlassen und ich habe es geschafft bis heute. Zwar bin ich erwerbsunfähig, aber das ist nebensächlich. Ich kann wieder mitmischen im Leben und das Leben macht wieder Spaß. Das allein zählt. Natürlich gibt es trotzdem auch Tiefs im Leben, Tage wo man die Schnauze so richtig voll hat.
Aber bisher habe ich die auch ohne Alkohol überstanden, nicht zuletzt dank der Hilfe meiner Selbsthilfegruppe und der Leute im Chat von www.a-connect.de, nicht zu vergessen meine Diskussionspartner bei www.gedankenschloss.de. Ich kann mit den mir verbliebenen Möglichkeiten wieder etwas Sinnvolles tun und zufrieden leben. Das allein zählt.
Autor: Gernot Geyer
Danke für diesen Beitrag, ich habe Tränen in den Augen und bin sehr, sehr stolz auf Sie, dass Sie diesen Schritt geschafft haben. Ich habe in meiner Familie einen nahen Verwandten der an Alkoholabhängigkeit leidet und sich leider nicht für den Weg aus der Sucht entschieden hat.